Wir verlassen Tiflis Richtung Norden. Am liebsten laufen wir Straßenstrecken welche den so typischen Dorfcharakter versprühen. Gi hat zwar immer Angst vor den Kühen, doch versuche ich sie jedes mal mit den gleichen Worten zu beruhigen. Schaue ihnen doch einfach nicht in die Augen. Dann bemerken die dich nicht. Sie ignorieren dich dann einfach.
Doch Gi schaut immer wie hypnotisiert erneut ins Kuhauge. So bleibt es nie aus, dass zumindest immer eine der Kühe verrückt spielt. Und Gi hat somit auch ihren Grund verrückt zu spielen. Ihre Beine gewinnen dann immer an Geschwindigkeit. Ich mag diese Momente der flitzenden Beine.
Gemeinsam mögen wir den wenigen Verkehr an solchen Strecken, die somit weit bessere Luft, die unendlich erscheinenden Alleen, die Wiesen und die darin oft versteckten Blumen. Versteckt sind nicht die Hühner im Verkaufsgefängnis. Auf dem Land scheint die Zeit oft stehen geblieben zu sein. Tiflis liegt schon weit hinter uns. Da gehört dann zu vielen Bauernhöfen noch eine Schubkarre, nicht um Erde von Ort zu Ort zu transportieren, verängstigte Hühner werden damit an die Straße transportiert. Ein Hühnchen kostet stolze 2 Euro. Hunderte von Eiern soll es in der Zukunft legen. Nur so erscheint der Preis gerechtfertigt. Anderes ist da weit billiger. Brot, Milch, Zucker oder Wasser bekommt man in jedem Dorfladen für wenig Geld. Wenig Geld ist unser Preisgefühl. Die Georgier sehen dies berechtigt anders. Der Dorfbäcker sieht dies berechtigt wieder anders. Für uns ist sein Rundofenbrot billig, für die Dorfbewohner zu teuer und für den Rundofenbäcker nicht teuer genug.
Genau wie in Armenien, gehören auch in Georgien die Kirchen zum täglichen Erscheinungsbild. Viele werden renoviert, neu herausgeputzt, somit auch neu beatmet. Wenn man zu Fuß unterwegs ist, hat man viel Zeit zum Nachdenken. Man belebt, bedingt durch die reichlich verfügbare Zeit, oft auch seine eigene Phantasie - Welt.
Wenn die Kirchen nun Menschen wären, einen eigenen Mund hätten und somit mit mir reden könnten, denke ich da zum Beispiel. Was würden mir die georgischen Kirchen alles erzählen?
Ich war eine Lagerhalle. Ich war eine Müllhalde. In meinem Bauch war eine Disco. Ich war ein Lazarett. Ich war und bin eine der wenigen Kirchen die auf ewig eine Kirche sein durfte. Weiteres fällt mir ein. In meinem Bauch hielten die Kommunisten ihre Versammlungen ab. Ich war die Dorfbücherei, der Dorfkindergarten, der Dorfladen. Ich war ein Gefängnis. In mir wurden Kinder geboren, Kinder gezeugt, Zeitungen gedruckt. In mir versteckten sich Partisanen, Soldaten, Verbrecher. Okay, die Phantasie geht da manchmal mit mir durch, doch ich liebe genau diese Zeit-Wanderschafts-Phantasien, denn sie helfen mir manchmal Geschichte, manchmal auch nur Geschichten zu verstehen.
Doch manchmal werden meine Gedankenspiele plötzlich unterbrochen, denn wenn wir einen Tunnel durchlaufen müssen (davon gibt es einige im bergigen Georgien!), weil es keine momentan andere Möglichkeit gibt, sind Gis Angstphantasien immer aufs äußerste angespannt. Ich habe recht lange gebraucht, um ihre Tunnelängste irgendwie zu verstehen. Lange enge Röhre, unheimlicher Krach von vorbeirauschenden Autos, wenig Licht, kein Licht, nur schmaler Seitenweg für Fußgänger, kein Fußgängerweg, Wassertropfen von der Decke, Stolperstellen, Fledermäuse im Anflug, Feuerausbruch durch Tanklasterunfall und weiteres beflügeln da ihre Ängste.
Vor jedem weiteren Tunnel gibt es erneut Wandertunnelstress. Ist der Tunnel durchschaubar, also das berühmte Licht am Ende des Tunnels zu sehen, hält sich der Stress in Grenzen. Ist er aber sehr, sehr lang, dann ist guter Rat nötig. Wir warten dann meist bis ein Auto anhält, suchen nach einem machbaren Umweg oder bekämpfen gemeinsam Gis Angst.
Sie rennt dann vorne weg. Ich merke dabei immer die Angstwellen welche sie verströmt. Irgendwie kann ich es verstehen, denn jeder Mensch hat Ängste. Nicht umsonst hält mir Gi immer mein Händchen, wenn wir in irgendeinem Flugzeug sitzen.
Angstzustände bekomme ich auch immer bei Straßen der ungewöhnlichen Art. Da tut mir Toyota leid, jede Schraube tut mir leid und somit tue ich mir selbst leid, denn wenn es Toyota schlecht geht, geht es auch mir schlecht. Zum Glück sind diese Baustraßen recht selten.
Zwischen Tunnelängsten, Baustraßen, Kirchen und viel Landluft, besuchen wir einen der berühmtesten Söhne von Georgien. Es ist Stalin. Natürlich besuchen wir ihn nicht persönlich, denn er lebt ja schon lange nicht mehr.
Geboren wurde er in der Stadt Gori. Da Gori am Weg liegt, wollen wir einfach sehen, wie die Stadt mit ihrem berühmt-berüchtigten Sohn umgeht.
Zwiespältig, drängt sich uns da gleich auf, denn die ehemalige, man staune, 18 Meter hohe Statue im Zentrum der Stadt wurde entfernt. Alles was nach Kommunismus roch, wurde nach dem Sowjetzusammenbruch in Georgien entfernt. Genosse Lenin sieht man nur noch auf Trödelmärkten. Bei Stalin konnte man sich nicht so recht entscheiden. Ist er doch ein Sohn Georgiens. Also blieb, wie uns die nette Touristinfo-Dame erklärt, das Stalinmuseum, die Stalinstraße und die Stalinparkanlage in Gori bestehen. Man überlegt auch, ob das 18 Meter hohe Monument erneut errichtet werden soll. Wenn sie Stalin mögen, sind sie hier richtig. Sonst gibt es nichts weiter in Gori zu bestaunen, sagt sie uns noch.
Auch wenn wir Stalin nicht unbedingt mögen, besuchen wir das Museum. Es ist eine volle Enttäuschung!
Das Problem der Stadt, wie gehen wir mit unserem Sohn um, wie erklären wir Geschichte, wie zeigen wir wahre Geschichte, springt uns förmlich ins Gesicht, denn nichts wurde in den verstaubten Räumlichkeiten seit Sowjetzeiten geändert. Es bleibt die zweifelhafte Huldigung an einer Person der Weltgeschichte. Ich schaue Stalin ins Gesicht.
Wie dumm von mir, denn Antworten wird er mir nicht geben. Lies er nun eine Millionen Menschen umbringen oder waren es viele Millionen mehr? Hier gibt es keine Antworten. Leider bestätigt sich für uns, manchmal braucht es Generationen um Geschichte aufzuarbeiten.
So verlassen wir Gori recht schnell. Was bleibt sind die zwiespältigen Gefühle zu Gori und zu Stalin selbst. Was versöhnt sind nicht die nächsten Tunnel. Es ändert sich die Luft. Es wird wärmer. Die Berge werden grüner. Tag für Tag laufen wir über 30 Kilometer. Manchmal regnet es, doch sind nun die Wassertropfen angenehmer, da einfach wärmer. Als wir die ersten Zauberwälder erblicken, ist das Schwarze Meer schon irgendwie zu riechen.
Wir wissen da noch nicht, dass dieses Klima aus Nieselregen, aus Sonnenstunden, aus Nebelbänken an den Hängen von vielen grünen dichten Wäldern, für längere Zeit unsere Begleiter sein werden.
Batumi, gelegen am Schwarzen Meer, empfängt uns genau mit diesem recht angenehmen Cocktail.
Auf Batumi fällt kein Schatten von Stalin. Die Stadt wirkt befreit von alten Lasten. Die Badewanne Georgiens macht sich fein, gibt sich Mühe. So genießen wir die Feinheiten der Stadt. Nach langer Zeit sind wir wieder an einem Meer. Baden tun wir aber nicht. Der Strand ist uns zu kieselig und das Wasser zu kalt. Entweder sind wir verwöhnt oder halt auch nur zwei Weicheier? Wir schlendern da lieber der Strandpromenade viele Kilometer entlang. Es sind am Abend nie an die 30 Kilometer. Wir schlendern ja auch nur, machen lange Pausen oder schlecken Eis.
Begeistert sind wir von der Altstadt. Sehr vieles wurde renoviert und erstrahlt somit im neuen Glanz. Neben vielen Kirchen gibt es sogar Moscheen. Die Türkei ist nicht mehr weit, geht es mir da durch den Kopf. Und weiteres saust durch die Gehirnzellen.
Viele Städte im Kaukasus, genau wie auch in vielen anderen Gegenden der Welt, waren Städte von religiöser Vielfalt. Da lebten die Religionen noch meist friedlich nebeneinander, auch voneinander und miteinander.
Schöne Städte leben auch immer von ihren Parkanlagen. Auch da muss sich Batumi nicht verstecken. Wir suchen die großen Parks auf. Wasserspiele, Kaffees und Wiesen so grün wie die Zauberwälder, lassen die Schlenderstunden schnell vergehen.
Nur einen Tag später sind wir in einer kleinen Ortschaft kurz vor der türkischen Grenze. Es ist bereits später Nachmittag. Zu diesen Stunden halten wir für gewöhnlich Ausschau nach einem Lagerplatz oder nach einer Pension für die Nacht.
Die Ortschaft hat leider nur viele neue Hotels der Sternekategorie zu bieten und nach Lagerplatz kurz vor der Grenze ist uns nicht so recht, denn Regen kommt erneut von Bergen auf uns zu.
Was haben wir denn noch für georgisches Geld, möchte Gi wissen. Ich schaue in die Börse. Umgerechnet sind es noch ca. 20 Euro.
Da mir klar ist, was Gi mit ihrer Frage bezweckt, sage ich sogleich, das ist zu wenig für die Sternchenschuppen. Da reichen auch meine Verhandlungskünste garantiert nicht aus.
In den vielen Tourenjahren, habe ich es mir regelrecht anerzogen, egal auch in welchem Land, egal mit oder ohne Sternchen, die Preise für Unterkünfte immer zu verhandeln. Ca. 90 Prozent der Vermieter sind für einen Deal bereit. Überraschend war für mich oft, welche Preisspannen da möglich sind. Diese hängen natürlich von unterschiedlichsten Kriterien ab. Ich habe mir da eine regelrechte Verhandlungsstrategie zurechtgezimmert. Diese variiert allerdings nach den jeweils anzutreffenden Umständen. Diese kann ich gar nicht alle aufzählen und somit verraten. Was ich verraten kann?
Unbedingt freundlich sollte man sein. Ich erwähne dann auch meist, dass wir extra zu Fuß für diese Unterkunft von Deutschland bis hier her gelaufen sind (bei unserer Weltradeltour war es halt das Fahrrad). Einen Blick auf die Zimmerschlüsselecke oder den Zimmerschlüsselkasten ist wichtig. Meist ist es da recht voll, was im Umkehrschluss bedeutet, viele Zimmer sind leer. Somit ist die Verhandlungsbasis recht gut. Wenn ich merke, mein Verhandlungspartner ist am Verhandeln interessiert, erst dann lasse ich mir das Zimmer, meist auch mehrere Zimmer zeigen. Auch wenn mich manchmal ein Zimmer fast positiv vom Hocker haut, lasse ich es mir nicht anmerken.
An der Rezeption beginnt dann der eigentliche Poker. Oft ist es wirklich ein richtiger spannender Poker, wenn der Zimmerpreis als Zahl im Taschenrechner Purzelbäume schlägt. Das Ergebnis lässt sich aber meist sehen. Ich schätze, so um die 25 Prozent haben wir in all den Jahren bei zu bezahlenden Unterkünften erhandelt.
Ich will es gleich schreiben, der Wi Hofmann ist kein Geizkragen. Handeln ist in vielen Ländern normal. Die Verhandlungsspanne ist eh meist schon im Preis versteckt. Es gibt dir zudem auch niemand ein Zimmer, wenn der ausgehandelte Preis seinen Ruin bedeuten würde. Man lernt auch sehr schnell, wo beim Gegenüber die Schmerzgrenze liegt. Ich selbst habe ja auch eine Geld-Schmerzgrenze für eine Unterkunft. Es ist fast wie ein Spiel. Spielt dein Gegenüber mit, und dies geschieht öfters als man vorher denkt, macht das Spiel echt Freude, sogar für jeden Freude.
Mit dem ersparten Geld zelebrieren wir keine Erfolgsparty am Abend. Wir haben aber unterwegs oft Gelegenheit anderen Menschen kleinere Freuden zu bereiten.
Gehe doch einfach ins nächste Hotel und zeige dein letztes georgisches Geld, sagt Gi lächelnd. Typisch Gi, denke ich, auf solch eine Idee bin ich bisher selbst noch nicht gekommen. Ich überlege. Ich versuche es einfach, sage ich zu Gi. Bist du verrückt, war nur ein Spaß, ruft sie mir hinterher.
Das erste Hotel verlasse ich nach nur einer Minute. Ich merke nämlich sofort, dass der Herr an der Rezeption schwierig sein wird, und der offizielle Hauspreis schon sehr hoch ist. Er möchte umgerechnet 70 Euro fürs Zimmer.
Im 2. Hotel, es hat drei Sternchen, ist der offizielle Preis 50 Euro. Ich merke sofort, hier könnte eventuell etwas möglich sein, denn die Rezeptions-Lady ist ziemlich nett. Ich lasse mir ein Zimmer zeigen. 10 Minuten später drückt die junge Frau ihren letzten machbaren Preis von umgerechnet 25 Euro in den Rechner. Ich öffne meine Börse, lege, bis auf die Münzen, alle Scheine auf den Tresen und sage, ist unser letztes georgisches Geld. Morgen wollen wir über die Grenze. Dabei blicke ich wie ein ausgesetzter junger Kater.
Sie redet kurz mit ihrer Kollegin. Ruft ihren Chef an. Danach erklärt sie mir, wenn wir kein Frühstück brauchen, dann wäre es machbar.
Wenig später schauen wir vom Balkon aufs Meer. Es nieselt leicht. Die Sicht ist schlecht. Doch irgendwie sind wir happy. Das Zimmer ist prima. Die Laken sind schneeweiß. Die Dusche ist heiß. Sehr selten genehmigen wir uns ein Sternchenzimmer. Hätte ich nie gedacht, dass Gis Idee schon beim zweiten Versuch Früchte trägt. Von 50 auf 20 Euro, habe ich so selbst noch nicht erlebt. Man lernt halt nie aus.
Wenig später lullen mich die angenehmen Wellengeräusche in einen tiefen Schlaf.
Auf dem Weg zur Grenze genehmigen wir uns vom restlichen Münzgeld ein ordentliches Frühstück. Das Kleingeld reicht für Tee und Chatschaburis, heiße Käsebrote. Viele dieser Chatschaburis haben wir in Georgien verschlungen. Die schmecken echt sehr gut, geben Wanderkraft für Stunden und sind zudem für uns sehr preiswert.
Kurz vor der Grenze retten wir noch eine Schildi. Sie will gerade die Straße überqueren. Will sie vielleicht auch in die Türkei, sage ich zu Gi. Da könnten wir sie ja mitnehmen.
Ich denke, sagt Gi, die will nur schnell über die Straße kommen. Ihr Ziel wird ihr Geheimnis bleiben. Gi trägt die Schildi in den sichern Wald.
Wir wollen in den nächsten Tagen immer entlang der türkischen Schwarzmeerküste bis nach Trabzon laufen. Was wir dabei erleben, ist noch unser Geheimnis. Erst im nächsten Bericht werde ich davon erzählen.
Bis dahin, liebe Grüße,
Wi + Gi + Toyota
Wanderkilometer bis zur Grenze: ca. 330 km
Gesamtwanderkilometer bisher: ca. 4.885 km Stand: Anfang Juli 2015